Freier Videocodec-Standard kommt wohl erst Ende 2018

Wer sich auf eine schnelle Implementierung des neuen freien Videocodec-Standards gefreut hat, wird enttäuscht. Es könnte noch bis Ende 2018 dauern, bis der Standard vom Konsortium Aomedia verabschiedet wird.

Der Zeitplan für das Videocodec wackelt

Schon mehr als zwei Jahre versucht sich die Alliance for Open Media (Aomedia) an der Verabschiedung des Standards für ein frei lizenziertes Videocodec. Als Gegenentwurf zu H.265 soll AV1 als Hoffnungsträger die Erstellung und Bearbeitung von Videos insbesondere im Internet vereinfachen. Außerdem verspricht man sich von AV1 neue Qualitätsstandards, die den bisherigen Verfahren überlegen sein sollen.

Es gab schon in der Vergangenheit Versuche, einen solchen Standard zu etablieren. Vor allem VP9 von Google wurden ursprünglich gute Chancen eingeräumt, doch die fehlende Unterstützung der sonstigen großen Industrieunternehmen ließ dies scheitern. Daher hat Google die Arbeiten am Nachfolger VP10 mehr oder weniger aufgegeben und gemeinsam mit anderen großen Mitbewerbern der Branche die Ergebnisse der Arbeit in das AV1-Projekt einfließen lassen. Dieses Projekt, das unter dem Dach von Aomedia zusammengeführt wurde, kann auf die Unterstützung einiger namhafter Unternehmen setzen.

Neben Google sind Hardwareentwickler wie Intel oder AMD ebenso beteiligt wie Mozilla, Cisco oder Streamingdienste wie Amazon und Netflix. Besonders aufmerksam verfolgt die Branche derzeit Meldungen, nach denen sich sogar Facebook in das Konsortium eingliedern möchte.

Infografik: Die Entwicklung der Video-Codecs von 1999 bis 2018 im Zeitstrahl.
Infografik: Die Entwicklung der Video-Codecs von 1999 bis 2018 im Zeitstrahl.

Warum überhaupt noch ein weiteres Videocodec?

Die Notwendigkeit für ein lizenzfreies Videocodec, das universell und weltweit allen Entwicklern und Nutzern zur Verfügung steht, ist einleuchtend. Denn mit dem Verschwinden der traditionellen Abspielhardware wie DVD-Player und BluRay zugunsten der Streamingverfahren wird es immer schwieriger, Lizenzen zu implementieren. So soll Windows 10 künftig auf die Lizenzen für MPEG-2 komplett verzichten, was für das Bearbeiten und Abspielen entsprechender Videos bedeutet, dass der Nutzer das Videocodec auf andere Weise lizenzieren muss.

Gerade durch die Verschiebung von Desktop zu Mobilgeräten wird eine einfache und barrierefreie Lösung für die Anwender immer wichtiger. Denn wer möchte schon am Handy erst irgendwelche Codecs suchen und installieren müssen, um sich ein Video anzusehen oder es mal eben zu schneiden und auf einer der Social-Media-Plattformen einzustellen? Die Überlegung, einen branchenübergreifenden Standard mit einem freien Videocodec zu schaffen, macht also durchaus Sinn.

AV1 ist derzeit der wahrscheinlichste Kandidat für diesen Standard. Obwohl die Ergebnisse bei der Kompression sehr überzeugend sind, mangelt es noch an der wünschenswerten Geschwindigkeit von AV1 beim Encoding. Denn hier ist die Software noch den bisherigen Standardlösungen unter H.265 und Konsorten unterlegen. Die Entwickler erklären hierzu, dass man sich darum kümmern werde, wenn die Arbeiten am Coding insgesamt so weit fortgeschritten sind, dass es Sinn macht, sich darum Gedanken zu machen.

Bisher fokussiert man sich in den Labors von Aomedia vor allem auf die Qualität und Performance des Codecs an sich. Für den normalen Nutzer ist das Encoding auch in der Regel von untergeordneter Bedeutung, solange keine Bearbeitung von Videos ansteht. Allerdings werden immer mehr User zu Produzenten von Videos, weswegen die Hardware künftig den Aomedia-Standard entsprechend unterstützen muss.

Die Notwendigkeit für ein lizenzfreies Videocodec, das universell und weltweit allen Entwicklern und Nutzern zur Verfügung steht, ist einleuchtend. (#01)
Die Notwendigkeit für ein lizenzfreies Videocodec, das universell und weltweit allen Entwicklern und Nutzern zur Verfügung steht, ist einleuchtend. (#01)

Das Videocodec kommt spät, aber es kommt nicht zu spät

Auf einem Meeting der NetVC-Arbeitsgruppe in Singapur wurde nun verkündet, dass die Spezifikationen für das Internet Video Codec (NetVC) erst Mitte 2018 veröffentlicht werden sollen. Ursprünglich war dies bereits für Mai 2017 geplant. Die Verzögerung soll die notwendigen Arbeiten an der Referenzimplementierung ermöglichen. Dabei geht es jedoch noch nicht um den endgültigen Internetstandard des neuen Videocodecs, sondern eher um Informationen für Entwickler.

Die eigentlichen Spezifikationen für das Format, an dem sich die Software und Tools für die Kompression von Videos orientieren können, folgen erst Ende 2018 – vielleicht auch später. In der Regel sind solche Ankündigungen eher zu optimistisch, weswegen es keinen wundern dürfte, wenn es sich bis 2019 hinzieht. Das angedachte Speicherformat, um das es bei diesen Spezifikationen geht, ist als Elementary Stream ausgelegt. Dieser soll zu bestehenden und populären Containterformaten kompatibel bleiben. Möglich wird dadurch ein Internetstreaming, das Live-Encoding unterstützen wird. Sowohl der Download in größeren Blöcken als auch der sogenannte progressive Download werden unterstützt.

Das Codec soll übrigens kein neues Containerformat erhalten, sondern in existierende Formate implementiert werden. Die Codes werden bei AV1 als Open-Source zur Verfügung gestellt. Man kann also davon ausgehen, dass universelle Codec-Pakete wie etwa das beliebte ffmpeg auch AV1 zeitnah integrieren werden. Wenn das freie Videocodec schließlich kommt (was wie gesagt bis 2019 dauern kann), profitieren die Endnutzer davon vor allem auch deshalb, weil die Unterstützung wichtiger Unternehmen für das Aomedia-Projekt in dieser Form einzigartig ist.

Schwerpunktmäßig ist das Streaming im Internet inzwischen von größerer Bedeutung als das Abspielen von DVDs oder Blurays. Der Einstieg von Amazon, Netflix und Hulu deckt den Großteil des Streamingmarktes auf einen Schlag ab. Es ist also davon auszugehen, dass die Entwickler von Hardware das freie Videocodec ebenfalls implementieren werden, zumal Intel und AMD dies auf Seiten der PC-Entwicklung ebenfalls unterstützen. Hinzu kommen wichtige Soziale Netzwerke. Mit dem Google-eigenen YouTube ist die bislang wichtigste Videoplattform im Netz ebenso dabei wie künftig auch Facebook, wo der Schwerpunkt ebenfalls immer weiter Richtung Videos geht. Es macht Sinn für das Zuckerberg-Unternehmen, die Entwicklung eines freien Videocodecs zu unterstützen.

Open Source wird das Potenzial für ein perfektes Videocodec erhöhen

Wer sich selbst gerne am Coding versucht, hat aufgrund der Konzeption als Open-Source-Projekt voraussichtlich die Möglichkeit, eigene Varianten von Codecs zu erstellen. Bei einem Videocodec, für dessen Nutzung Lizenzgebühren anfallen, war das bisher nicht so ohne Weiteres möglich, da der Quellcode bei den meisten Anbietern unter Verschluss gehalten wird. Und selbst wenn man die Codes einsehen kann, ist das Ändern und Anpassen bei einem geschützten Videocodec immer ein Wandeln in der rechtlichen Grauzone.

Wer sich selbst gerne am Coding versucht, hat aufgrund der Konzeption als Open-Source-Projekt voraussichtlich die Möglichkeit, eigene Varianten von Codecs zu erstellen. (#02)
Wer sich selbst gerne am Coding versucht, hat aufgrund der Konzeption als Open-Source-Projekt voraussichtlich die Möglichkeit, eigene Varianten von Codecs zu erstellen. (#02)

Das gilt auch für Codecsammlungen wie ffmpeg, die so gut wie alle verfügbaren Containerformate beinhalten. Solange ein Videocodec frei verfügbar ist, ist das kein Problem. Aber in Ländern, in denen Lizenzgebühren für bestimmte Videocodecs gezahlt werden müssen, hat man schnell ein juristisches Problem. Da man in Zeiten des grenzenlosen Internets aber oft gar nicht mehr kontrollieren kann, in welchen Ländern die Inhalte zu sehen sind, können selbst in gutem Glauben erstellte Videos zum teuren Bumerang werden.

Ein freies Videocodec, das sich nicht nur als Nischenprodukt etabliert sondern als echter Standard von der Industrie unterstützt wird, ist mehr als überfällig.

Fazit: Großes Potenzial für ein wirklich freies Videocodec für alle

Auch wenn es noch etwas länger dauert als ursprünglich versprochen: Das freie Videocodec von Aomedia hat derzeit die besten Aussichten, das Wirrwarr der unterschiedlichen Standards aufzudröseln. Die breite Unterstützung der Industrie ist sehr wichtig und der Einstieg von weiteren großen Namen wie Facebook beweist, dass AV1 echte Chancen hat.

Die Zeit wird zeigen, ob sich das Warten lohnt. Obwohl Verzögerungen bei solchen Vorhaben nichts Besonderes sind, darf das Konsortium den Zeitplan nicht aus den Augen verlieren. Sollte es wesentlich länger als bis 2019 dauern, befürchten Fachleute, dass einige der großen Unterstützer wieder abspringen könnten.


Infografik: © Schwarzer.de
Bildnachweis: © Shutterstock-Titelbild: eldar nurkovic -#01: _ PHILIPIMAGE -#02: panuwat phimpha