Virtual Reality Shopping: Bald mehr als nur eine Spielerei?

Ich weiß, was ihr denkt: Virtual Reality wird als Begriff seit fast einem Vierteljahrhundert immer wieder hervorgeholt. Wer alt genug ist, sich an die klobigen VR-Helme an Spielautomaten mit ihrer grottenschlechten 3D-Polygongrafik zu erinnern, hat die ambitionierten Vorhersagen der Entwickler sicher schon mehr als einmal gehört. Was damals aber mit Reality sehr wenig zu tun hatte, wird heute dank ausgefeilter VR-Brillen und leistungsfähiger Smartphones langsam zu einem ernstzunehmenden Stück Technologie.

Klar, dass vor allem Videospiele und 3D-Videoerlebnisse (etwa bei der Erkundung von Reisezielen) zu den ersten Anwendungen für Virtual Reality gehören. Aber das Einkaufen mit VR-Brille wird künftig ebenfalls Bestandteil unseres Alltags werden. Jedenfalls wenn es nach den großen Anbietern geht.

Große Neugier bei den Usern: Aber noch ist VR vor allem Spielerei

Das Interesse der User am VR-Shopping ist zunächst einmal recht groß. Das hängt nun auch sicher von der angepeilten Zielgruppe ab. Aber die Menschen unter 40 sind in der Regel neuen Technologien gegenüber sehr aufgeschlossen. Und auch darüber hinaus gibt es natürlich noch viele aus der Generation, die die erwähnten Versprechen zu Virtual Reality endlich eingelöst sehen möchten. Doch wie funktioniert VR eigentlich?

Das ist recht schnell erklärt: Zwei Bilder mit leicht unterschiedlichen Perspektiven werden jeweils vor das linke und rechte Auge des Benutzers eingespielt. Dadurch ergibt sich ein 3D-Effekt, der dem räumlichen Sehen in der Realität entspricht. Das ist wichtig, um Entfernungen einschätzen zu können und das Erlebnis vom „flachen“ 2D des Monitors abzuheben. Doch dafür würde es schon eine einfache 3D-Brille tun.

VR geht den entscheidenden Schritt weiter: Die natürlichen Bewegungen des Kopfes werden über die Bewegungssensoren der VR-Brille bzw. des Smartphones 1:1 in Echtzeit umgesetzt, man hat also tatsächlich den Eindruck, sich in der eingespielten Umgebung frei bewegen zu können. Erweitern lässt sich das dann noch durch zusätzliche Sensoren oder Kameras, die den eigenen Körper und dessen Bewegungen überwachen und in die VR-Umgebung einbeziehen. Das ist nicht nur für Videospiele ein sprichwörtlicher Gamechanger, sondern eben potenziell für den Einkauf in der virtuellen Welt interessant. Denn auf diese Weise könnte man zum Beispiel Klamotten einkaufen und sofort „anprobieren“.

Video: IFA 2015 Talk – Marcus Tychsen erklärt Virtuelle Realität

Möbelkauf könnte bald einfacher werden

Neben VR gibt es aber noch AR, die sogenannte Augmented Reality. Zu Deutsch heißt das so viel wie „erweiterte Realität“. Das gibt es schon länger, auch für Smartphone-Apps. Eine einfache Anwendung dafür ist beispielsweise eine App, die Touristen Zusatzinformationen zu Sehenswürdigkeiten bietet. Dazu richtet man die Kamera des Smartphones einfach auf das jeweilige Objekt (z.B. eine Kirche) und erhält direkt im Bild zusätzliche Informationen angezeigt.

Doch je leistungsfähiger Smartphones werden, desto größer die Anwendungsmöglichkeiten für AR. Im Bereich der Computerspiele gibt es beispielsweise AR-Programme, die Animationen und Objekte in reale Bilder einspiegeln. So kann man ein Brettspiel zum Leben erwecken, wenn die Schachfiguren auf dem heimischen Küchentisch in Echtzeit miteinander kämpfen. Um dieses Erlebnis vollständig genießen zu können, empfiehlt sich jedoch die Kombination mit einer VR-Brille, die die AR-Inhalte wesentlich realistischer vermittelt als das in der Hand gehaltene Tablet oder Smartphone.

Interessant ist das auch im Onlinehandel, denn durch die Kombination von VR und AR ergeben sich neue Möglichkeiten. Die bereits erwähnte virtuelle Kleideranprobe ist nur ein Aspekt. Wirklich Sinn macht ein solches Erlebnis zum Beispiel beim Kauf von Möbeln. Denn was im Möbelhaus gut aussieht, wirkt in den eigenen vier Wänden oft ganz anders. In Zukunft können wir also in den IKEA VR-Shop gehen, uns dort eine Couch aussuchen und in den eigenen vier Wänden begutachten, wie sie sich wohl im Wohnzimmer machen würde.

Die Optionen für den User sind (abhängig von der Programmierung) nahezu unbegrenzt. Virtuelles Möbelrücken ist ebenso möglich wie spontane Farbwechsel der Couchgarnitur oder der Küchenzeile. Und: Man kann es immer in Echtzeit in der eigenen Wohnung betrachten und auf sich wirken lassen.

In Zukunft werden Kunden immer öfter erwarten, dass sie im Onlineshop nicht mehr nur eine aussagekräftige Fotoansicht eines Artikels haben, in die sie bestenfalls hineinzoomen können. (#01)
In Zukunft werden Kunden immer öfter erwarten, dass sie im Onlineshop nicht mehr nur eine aussagekräftige Fotoansicht eines Artikels haben, in die sie bestenfalls hineinzoomen können. (#01)

Man muss nicht sofort auf jeden Zug aufspringen

Allerdings macht das VR-Shopping unter Verwendung von AR-Elementen eben nicht für jeden Shop Sinn. Wer beispielsweise Bürobedarf verkauft, wird auf solche Spielereien sicher vorerst verzichten können. Trotzdem: In Zukunft werden Kunden immer öfter erwarten, dass sie im Onlineshop nicht mehr nur eine aussagekräftige Fotoansicht eines Artikels haben, in die sie bestenfalls hineinzoomen können.Vielmehr möchten sie das Objekt von allen Seiten betrachten und gegebenenfalls im Zusammenspiel mit ihrer Einrichtung begutachten können. Um dies zu realisieren, müssen die Inhalte aber selbstverständlich VR-kompatibel konzipiert werden.

Hierzu werden Amazon und andere Anbieter ihre Onlineshops komplett neu strukturieren müssen. Der Programmieraufwand hierfür ist erheblich, denn bei VR ist vor allem eines wichtig: Das Erlebnis für den Nutzer muss den Erwartungen entsprechen. Halbherzig umgesetzte Lösungen, die technisch nicht das halten, was man sich davon versprochen hat, werden den User eher abschrecken. Es gibt jedoch starke Hinweise, dass Alibaba (Chinas größter Onlinehändler) und Amazon dieses Potenzial in den kommenden Jahren wirklich ausschöpfen möchten.

So sucht Amazon aktiv nach neuen Mitarbeitern, die in der Softwareentwicklung für Virtual Reality Brillen beschäftigt werden sollen. Am Ende soll dann die komplette Revolution des Shoppingerlebnisses stehen. Und Alibaba hat bereits im vergangenen Jahr einen größeren Feldversuch für seine Kunden gestartet. Am sogenannten „Singles Day“, der in etwa dem inzwischen auch in Europa bekannten „Black Friday“ in den USA entspricht, konnten Nutzer von Alibaba mit einer Smartphone App und einer einfachen Cardboard VR-Brille Produkte in einer 360-Grad-Ansicht erleben und bestellen.

Diese Cardboard-Lösungen sind für Menschen gedacht, die sich keine der teuren Profi-VR-Brillen leisten möchten oder können. Statt komplizierter und teurer VR-Technik wird bei der Cardboard-Lösung das Smartphone (mit einer entsprechenden App versehen) in einen Papprahmen gesteckt, den man dann wie eine Brille tragen kann. Für einfache Anwendungen funktioniert das ganz gut, aber für ein umfassendes VR-Erlebnis sind die ausgefeilten Sensoren und Kopfhörer einer eigens dafür entwickelten VR-Brille wie Oculus Rift eine andere Liga.

Video: Zum Ersten Mal VR – Die Virtual Reality Woche bei Galileo | Galileo | ProSieben

Kein Ersatz für ein echtes Einkaufserlebnis. Noch nicht.

Es ging Aliababa dabei jedoch nicht um die Perfektion, sondern darum, den Kunden VR näherzubringen. Denn die meisten User, die nicht gerade zu den Videospielfreaks gehören, haben VR in der Regel noch nie wirklich ausprobiert. Wenn überhaupt, dann vielleicht im Elektronikmarkt, um sich irgendwelche Achterbahnvideos anzusehen. Einen echten praktischen Nutzen im Alltag verbinden aber die wenigsten Normaluser mit VR-Brillen.

Ein anderer Aspekt ist, dass man das Online-Shopping virtuell auch über Grenzen hinweg erfahrbar machen kann. Beim erwähnten Testlauf am Singles Day beteiligte sich das New Yorker Kaufhaus Macy’s, wodurch die Alibaba-Kunden quasi virtuell in diesem berühmten Hause einkaufen konnten. Dabei sollte das Erlebnis einem echten Einkaufsbummel so nahe wie möglich kommen und echtes Shopping nach Herzenslust ermöglichen. Dass diesem Erlebnis im Vergleich zum echten Einkaufserlebnis im Laden noch haptische und sensorische Grenzen gesetzt sind, ist klar.

Wer also nach wie vor lieber in einem echten Buch in der Buchhandlung stöbert, der wird sich kaum von Zuhause aus mit einer VR-Brille in den nächsten Weltbild- oder Thalia-Laden begeben. Aber wer schon immer mal bei Tiffany’s oder eben einem der berühmten New Yorker Einkaufsläden vorbeischauen wollte, kann das virtuell bereits ganz gut umsetzen. Bei solchen Aktionen geht es den Online-Shops aber in erster Linie noch immer um die Promotion, also um die Steigerung des Bekanntheitsgrades. Etwa so, wie vor zwanzig Jahren eine eigene Homepage noch sensationell war (insbesondere mit einer „echten“, eigenen URL und keiner kryptischen, endlosen Provider-URL), ist die frühe Präsenz im VR-Shopping ein echtes Highlight für Early Adopter.

In den kommenden Jahren können wir erwarten, dass VR und AR-Anwendungen im Online-Shopping zunehmend Verbreitung finden werden. (#02)
In den kommenden Jahren können wir erwarten, dass VR und AR-Anwendungen im Online-Shopping zunehmend Verbreitung finden werden. (#02)

Werbung wird uns auch per VR begleiten

In den kommenden Jahren können wir erwarten, dass VR und AR-Anwendungen im Online-Shopping zunehmend Verbreitung finden werden. Klar, dazu braucht man keine Glaskugel. Die Technik der Smartphones und VR-Brillen wird schließlich nicht nur immer leistungsfähiger, sondern im Verhältnis auch erschwinglicher. So, wie vor wenigen Jahren noch längst nicht jeder ein Handy oder später ein Smartphone besaß, wird sich die VR-Brille (in welcher Form auch immer) zum Alltagsgegenstand entwickeln. Es ist sogar denkbar, dass die heute üblichen Tablets und Smartphones einer Brillen-Lösung weichen, die jederzeit getragen wird und Augmented Reality in unseren Alltag einbindet.

Google hat mit seiner berühmten Brille damit bereits die ersten Gehversuche unternommen, aber mit einem solchen Konzept sind natürlich auch Probleme verbunden, die gelöst werden müssen. Denn schließlich darf man trotz VR nicht vergessen, dass man gegebenenfalls in der echten Realität gegen einen gar nicht so virtuellen Schrank läuft, wenn man nicht aufpasst. Erinnert Ihr Euch noch an den Hype um Pokemon Go? Auch das war ein Beispiel für Augmented Reality, das viele Menschen genervt hat, die mit dem Spiel nichts am Hut hatten.

Aber es zeigt, wo die Reise technisch hingehen kann: Was heute noch ein idiotisches Comicmonster ist, das man mit einem Ball bewerfen muss, kann morgen bereits das Bild einer leckeren Pizza auf dem eigenen Esstisch sein, das zum spontanen Kauf animieren soll. Oder eben irgendein anderes Produkt. So könnte der Baumarkt den Rasenmäher direkt in den heimischen Garten stellen, um zu zeigen, wie schnittig er dort aussieht. Wir können uns heute vermutlich noch gar nicht alle Anwendungsmöglichkeiten vorstellen, die mit dem VR-Shopping auf uns zukommen.

Dass Virtual Reality (wenn auch mit einiger Verzögerung) kommen wird, wissen eingefleischte Computer-Geeks schon seit einem Vierteljahrhundert. Langsam kommen wir technisch dorthin, wo wir damals hinwollten. (#03)
Dass Virtual Reality (wenn auch mit einiger Verzögerung) kommen wird, wissen eingefleischte Computer-Geeks schon seit einem Vierteljahrhundert. Langsam kommen wir technisch dorthin, wo wir damals hinwollten. (#03)

Nicht jede technische Neuerung setzt sich am Markt automatisch durch

Dass Virtual Reality (wenn auch mit einiger Verzögerung) kommen wird, wissen eingefleischte Computer-Geeks schon seit einem Vierteljahrhundert. Langsam kommen wir technisch dorthin, wo wir damals hinwollten. Aber was bedeutet das nun für den heutigen Betreiber eines Online-Shops? Muss ich jetzt sofort meine Inhalte auf VR und AR umstellen? Sicher nicht.

Wie gesagt, hängt es zum einen sehr von der Branche ab, ob der frühzeitige Umstieg überhaupt Sinn macht. Denn es ist wie bei allem: Die tollste Technik wird schnell langweilig, wenn es keine geeigneten Inhalte gibt. Aus diesem Grund hat sich das 3D-Fernsehen nicht wirklich durchgesetzt. Zu wenige 3D-Inhalte machten die Anschaffung der teuren Geräte und ihrer 3D-Brillen unwirtschaftlich, so dass der Hype zunächst wieder abgeflacht ist.

Nur weil es im Kino gut klappt, bedeutet es eben nicht, dass es auch im Alltag bei der Tagesschau funktioniert. Mit VR-Brillen könnte sich das alles ändern, denn man braucht dann eben keine „Prothesen“ für andere Endgeräte mehr, sondern kann direkt und einigermaßen natürlich in die VR-Welt eintauchen. Wer nun einen einfachen Online-Shop betreibt, wird sicher nicht alles auf den Kopf stellen müssen. Aber man sollte die Entwicklung im Auge behalten. Wenn die großen Anbieter erst einmal einen bestimmten Standard für den Nutzer etabliert haben, erwarten die User das auch von anderen Shops.

Das ist ähnlich wie bei den Bezahlsystemen. Heute kann man ohne Paypal, Kreditkarten und andere Bezahlsysteme kaum noch einen Online-Shop betreiben. Früher ging das noch mit „Überweisen Sie bitte den Betrag“ ganz gut. Überhaupt werden Bezahlsysteme auch mit VR um neue Möglichkeiten erweitert. Was heute bei Amazon der 1-Klick-Kauf ist, könnte morgen das einfache Abnicken einer Bestellung per VR-Brille sein. Genau das war bei Alibaba bereits möglich.

Video: Virtuelle Welten: bald ganz real? – FUTUREMAG – ARTE

Fazit: VR-Shopping kommt, aber man muss sich nicht überschlagen

Natürlich möchte niemand den Trend verschlafen, wenn das Virtual Reality-Shopping seinen zu erwartenden Siegeszug antritt. Aber selbst die großen Anbieter sind noch vorsichtig. Es reicht ja nicht, einen Shop inhaltlich und technisch auf VR einzurichten. Die Kunden müssen dazu bereit sein, in die notwendigen Endgeräte und Zubehörteile zu investieren und diese dann auch beim alltäglichen Einkauf nutzen zu wollen.

Mindestens für eine längere Übergangszeit wird die Notwendigkeit für parallele Systeme bestehen, ähnlich wie bei der Präsenz mobiler Webseiten und Desktop-Webseiten. Langfristig werden Virtual Reality und Augmented Reality durch sinnvolle Anwendungen weit mehr werden als einfache Spielereien. Und irgendwann kaufen wir dann unsere Möbel vielleicht wirklich bei IKEA, ohne uns lange an der Kasse anstellen zu müssen. Nur aufbauen müssen wir das Zeug immer noch selbst – das erledigt nämlich leider kein virtueller Sechskantschlüssel.


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